Die Faszination für jüdische Friedhöfe begleitet mich inzwischen seit Jahren. Gemeinsam mit meinem Fotofreund, Walter Hörnig, hatte ich hierzu bereits eine Reihe von Ausstellungen zu diesem ganz eigenen Thema, weitere sind in Planung.
Februar 2014
Es ist sicher nicht übertrieben, wenn ich sage, dass mich in den letzten Jahren die fotografische Auseinandersetzung mit jüdischen Friedhöfen verändert, oder zumindest aber stark geprägt hat. Natürlich kann man sich dabei nicht neu erfinden, nichts kann nach oben geholt werden, was nicht schon immer da ist, aber ohne jeden Zweifel kann das alles Einfluß auf eine innere Haltung nehmen, man richtet sich neu aus, gibt sich selbst eine andere Ordnung vieler Werte. Dabei spielt gerade hier das eigene Alter ohne Frage eine ganz erhebliche Rolle.
Wenn ich demnächst 60 werde, bin ich noch nicht wirklich alt, doch gleichzeitig nicht mehr jung genug, um das Älterwerden dauerhaft zu verdrängen. Spätestens mit Mitte Fünfzig, so war es zumindest bei mir, steht man an einer unsichtbaren Schwelle, ist mit der nüchternen Sicherheit konfrontiert, dass mehr an Zeit für einen gewesen ist, als noch bleibt und beginnt mehr vom Ende her zu denken. Es ist einer dieser schwer zu erklärenden Zufälle, dass ich meinen ersten jüdischen Friedhof mit 54 Jahren betreten habe, dann aber aus dem Stand völlig gefangen war, von dieser ganz besonderen Aura und dem, was er an undeutlichen und ungeklärten Botschaften bereit hielt. Das ist keineswegs esoterisch gemeint, das würde nicht zu mir passen, doch es gibt Erfahrungen die urplötzlich etwas in einem berühren, etwas anstoßen, das man so noch nicht vorgefunden, so noch nicht für sich entdeckt hatte und das verstanden werden will.
Hier, auf dem jüdischen Friedhof, bekam das irdische Ende plötzlich ein Gesicht, unmissverständlich, unzweideutig, wurde "die Zeit danach" fassbar, sowohl in einem weltlichen, als auch in einem spirituellen Sinn. Diese Erfahrung kann man auf den modernen christlichen Friedhöfen unserer Städte und Dörfer niemals machen, unsere heutige abendländische Kultur ist nicht auf Ewigkeit ausgerichtet. Dazu sind die Grabstätten viel zu kurzlebig, die Ordnungswut und das Bedürfnis nach klinischer Sauberkeit eines prosperierenden Zeitgeistes verhindern erfolgreich den Prozeß der Verbindung dieser Friedhöfe mit einer dynamischen Natur.
Auf jüdischen Friedhöfen kehrt sich das um, werden Gräber ganz bewusst der Ewigkeit überlassen, bleiben somit dem natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen anvertraut, bislang über Jahrhunderte! Es ist eine prägende Erfahrung Grabsteine vorzufinden, die vor Äonen gehauen und gesetzt wurden und sich noch heute der Witterung entgegen stellen, um an ein vergangenes Leben zu erinnern. Sie verändern sich dabei, man sieht ihnen ihr Alter an und wenn man unzählige Grabsteine aus alten Zeiten nebeneinander vorfindet, dann schwindet jede Hierarchie, auch kleinste und einfachste Steine haben im Strom der Zeit eine völlig eigene Schönheit gewonnen, die gesellschaftliche Stellung der Verstorbenen schon längst jede Bedeutung verloren.
Viele dieser Eindrücke und Erfahrungen finden im nachstehenden Text aus unseren Ausstellungseröffnungen ihren Niederschlag...
Unser Begrüßungstext zur Vernissage der Ausstellungen
Einen jüdischen Friedhof zu betreten ist eine beeindruckende Erfahrung, gänzlich überraschend für denjenigen, der erstmals diesen Schritt wagt. Ein Ort voller Kontemplation, fraglos spirituell auch für Nichtjuden. Fragmente von Ordnung innerhalb natürlicher Unordnung, dies ist der wohl intensivste Eindruck, den man auf den ersten Blick rein gefühlsmäßig erhält. Und für den Anhänger der Fotografie, der ja stets bemüht ist Augenblicke, Stimmungen, ästhetische Elemente für sich und andere auf seine ganz persönliche Weise im Bild festzuhalten, ein schier unerschöpflicher Hort an Motiven. Nicht voyeuristisch, nein - tief beeindruckt, voller Respekt und Bewunderung für eine Begräbnisstätte, die sich so unglaublich von denen unseres mitteleuropäischen, christlichen Kulturkreises unterscheidet. Eine Stätte voller Mystik, geheimnisvoll, reich an atem-beraubenden Symbolen und Stimmungen, Formeln, Fabeln und animierenden Strukturen voller Zauber, aber auch von einer Würde, die zur Nachdenklichkeit ermahnt.
Jüdische Gräber bleiben unberührt, dürfen verfallen, werden keinesfalls geräumt. Das Grab gehört dem, der in ihm ruht, nach jüdischem Glauben bis zum Ende aller Tage, bis zu dem Tag an dem der Messias kommt. Sowohl Verfall und Vergänglichkeit, als auch überbordende Natur, sind hier in einer Weise gegenwärtig, dass sich dies als Thema geradezu aufdrängt. Bäume dürfen neben den alten Grabsteinen emporwachsen, drücken sie zur Seite, überwachsen sie und schließen sie ein. Der Gedanke liegt nahe, dass sich dieser Prozess eines Tages wieder umkehrt und der Baum, wenn er dereinst gebrochen ist, im Zerfall den Stein wieder freigeben muss.
Flechten, Moose, Pilze und bei uns der verwitternde Sandstein lassen die Steine bei Sonnenlicht in den atemberaubendsten Farben leuchten, im Unterholz, im ungezügelt wachsenden Strauchwerk. Und doch zeigt sich durch die Ausrichtung der Grabstelen Ordnung, innerhalb der ungebändigten Natur, erhält die Stätte Struktur. Die Grabsteine sind hierbei vielfach von ergreifender Schönheit, selbst die einfach geformten erhalten durch die Patina der Jahrhunderte, durch Ornamente, Symbole, durch ihren Bewuchs und Verfall, aber gerade auch durch die hebräischen Schriftzeichen ein beeindruckendes Gesicht, eine überraschende Ästhetik. Und an der Stelle, die wie keine andere für Vergänglichkeit, das Ende, den Tod steht, gerade dort ist das Leben von einer allumfassenden Vitalität. Ein Ort, an dem man im vollen Bewusstsein seiner Ängste, den Gedanken wagen kann im Tod das Positive, das Neue, den Wandel und wenn man mag - Wiedergeburt zu entdecken.
Mithin sind wir also an dem Punkt angelangt, der im Laufe der Jahre, bei unseren zahllosen Besuchen auf den verschiedensten Friedhöfen, zur dominierenden Erfahrung wurde. Nicht sofort und es brauchte Zeit zu verstehen, ist gewiss auch nicht für jeden mit den gleichen Eindrücken verbunden. Ausgerechnet jüdische Friedhöfe wurden uns ein Sinnbild der ungeheuren Dynamik des Lebens, der Erneuerung, des unaufhaltsamen Fortschreitens. Neben dem erodierenden Stein entsteht ein Wald, wird auch wieder fallen, um vielleicht einem neuen Platz zu machen, wachsen Blumen, gehen Moose und Flechten untrennbare Symbiosen ein, feinste Pflanzentriebe sprengen das Mineral, um Raum für ihr eigenes Leben zu gewinnen, und alles findet stetig und ungehindert statt, ohne sichtbare ordnende Hand, losgelöst von menschlichen Plänen. Man lässt es lediglich zu.
Unzählige Stunden waren wir in den vergangenen Jahren hier auf Motivsuche, standen bei den Grabsteinen, versuchten sie in Bildern zu greifen. Licht, Stille und die spürbare Aura des Ortes haben wir dabei in uns aufgenommen, eine archaische Erfahrung, wieder und wieder. Es war Überraschung und Berührtheit, Nachdenklichkeit und Bewunderung, doch niemals Schauder oder Beklemmung. Die Zeit ging gnädig um mit dem Tod, gab ihm hier ein anmutiges Gesicht, in Jahrzehnten, Jahrhunderten. Einverständnis mit ihm, mit seinen Symbolen, es gelang beinahe von alleine, unmerklich, unaufdringlich. Die Steine wurden uns zu Botschaftern alter Zeiten, einer beeindruckenden Kultur, dessen was bleibt und vergeht, der Sicherheit des vollständigen Wandels, wurden uns beinahe vertraut.
Und wenn nicht hier, wo dann, könnte man Zugang zu den allerletzten Fragen suchen und aus einer berührenden Stimmung vielleicht die eine oder andere Antwort finden? Unwillkürlich erinnert man sich an eine Textstelle aus Hesses Siddharta:
Siddharta bückte sich, hob einen Stein vom Erdboden auf und wog ihn in der Hand.
„Dies hier“ sagte er spielend, „ist ein Stein, und er wird in einer bestimmten Zeit vielleicht Erde sein, und wird aus Erde Pflanze werden, oder Tier oder Mensch.
Früher nun hätte ich gesagt: ‚Dieser Stein ist bloß ein Stein, er ist wertlos, er gehört der Welt der Maya an: aber - weil er vielleicht im Kreislauf der Verwandlungen auch Mensch und Geist werden kann, darum schenke ich auch ihm Geltung.‘
So hätte ich früher vielleicht gedacht. Heute aber denke ich: dieser Stein ist Stein, er ist auch Tier, er ist auch Gott, er ist auch Buddha, ich verehre und liebe ihn nicht, weil er einstmals dieses oder jenes werden könnte, sondern weil er alles längst und immer ist...
So spricht Siddharta...
Jüdische Friedhöfe verkörpern diese Dialektik in atemberaubender Weise, sind Tod, Leben, Verfall und Geburt, Wandel und Erneuerung in Einheit, aber natürlich – sie sind auch ein Ort des Gedenkens.
Lange schon sind die Erinnerungen an die Lebensgeschichte der hier Ruhenden verloren. Auch die trauernden Angehörigen sind längst nicht mehr. Was geblieben ist, das sind die Grabmale oder deren Reste, die uns zeigen, dass hier eine menschliche Seele Spuren hinterlassen hat, die tief in ihrer Tradition verankert war. Sie stehen voller Würde für ein vergangenes Leben. Bet Hachajim lautet im Jüdischen der Begriff für einen Friedhof, „Haus des Lebens“.
Diese Ästhetik des Widerspruchs, diese unglaubliche Vielschichtigkeit, diese ganz besondere Würde im Bild festzuhalten wurde mehr und mehr unser Wunsch, haben wir versucht in unseren Bildern auszudrücken und mitzuteilen. Mit den Fotografien wollen wir dem Betrachter ein Fenster öffnen, nebenan, im Bet Hachajim, bei einer Kultur die immer verfolgt, immer vertrieben war, seit Äonen in der Diaspora lebte, für viele fremd blieb, nie zur Ruhe kam um Frieden zu finden und doch an ihren beeindruckenden Ritualen festhielt, die stets die Ewigkeit im Blick hatte und in der Gegenwart Antworten schuf, ungewollt vielleicht, im stillen Bündnis mit dem Kreislauf der Natur.
Folgende Bücher waren uns für unsere Friedhofsexkursionen stets eine große Hilfe: